Vorsicht! Sensible Objekte
Echthaar Entsammeln: Gründe und Vorgehen
Das Regionalmuseum Chüechlihus hat in einer gross angelegten Abstimmung mit der Bevölkerung beschlossen, rund 400 Objekte und Materialien aus seiner Sammlung zu entlassen. Diese Auswahl umfasst erstmals auch besonders sensible Objekte wie Echthaare. Da es sich bei Echthaaren um menschliches Gewebe handelt, dessen Herkunft ungeklärt ist, ist die Entsammlung dieser Kulturgüter bei uns an spezielle Vorgaben geknüpft: Bewerbungen zur Weitergabe der Haare werden nur berücksichtigt, wenn sie eine kritische Auseinandersetzung mit der Problematik menschlicher Überreste im Museum fördern und eine entsprechende Diskussion anstossen. Wer eine sinnvolle Idee hat, meldet sich bis am 16. Juni 2024 über das Bewerbungsformular bei uns.
Sensible Objekte im Museum
Für Museen stellt der Umgang mit menschlichen Überresten – oder eben menschliches Gewebe wie Haare, Nägel, oder Zähne, die auch ohne den Tod des Menschen entfernt werden können – eine komplexe und herausfordernde Aufgabe dar, die mit äusserstem Fingerspitzengefühl, Respekt und einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit ethischen Fragen angegangen werden muss. Es geht darum, die Erinnerungen und Geschichten, die diese Objekte mit sich tragen, angemessen zu würdigen und dabei gleichzeitig die Würde der Verstorbenen zu wahren.
Zum Umgang mit sensiblen Objekten dieser Art, gibt es erst wenige einheitliche Richtlinien und Vorgaben, aber die Diskussion läuft. Die Ethischen Richtlinien des Internationalen Museumsrats ICOM verpflichten zum respektvollen und professionellen Umgang, der Deutsche Museumsbund verabschiedete einen Leitfaden mit praktischen Arbeitshilfen im Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. Es kommt nämlich immer wieder vor, dass Museen in ihren Sammlungen auf menschliches Gewebe stossen und sich damit auseinandersetzen müssen. Die Herkunft dieser Kulturgüter ist oft nicht einfach herauszufinden oder überhaupt nicht möglich. Ebenso schwierig ist es, allfälliges unethisches oder illegales Verhalten beim Erwerb oder einer Schenkung aufzudecken.
Entsammeln oder nicht?
Im Regionalmuseum Chüechlihus besitzen wir eine Tüte mit menschlichem Haar, die uns im Rahmen einer grossen Sammelschenkung zusammen mit Hunderten von anderen Objekten übergeben wurde. Woher die Haare kommen und wem sie einst gehörten, ist jedoch unbekannt. Wir können aber davon ausgehen, dass die Haare aus der Umgebung stammen, aus einem regionalen (und vermutlich auch unproblematischen) Kontext.
Diese Objektgruppe wirft dennoch verschiedene Fragen auf, die auch eine ethische und historische Dimension beinhalten.
- Bei Haaren in einer Sammlung besteht die Möglichkeit, dass sie durch Ausbeutung, Zwang oder Druck angeeignet wurden.
- Abgeschnittene Haare erinnern an dunkle Kapitel der Geschichte, wie zum Beispiel die Zwangsrasur in den Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs, bei der Menschen ihrer Würde und Identität beraubt wurden.
- Haare können auch positiver konnotiert sein. Sie sind manchmal Teil einer Erinnerungskultur. An gewissen Orten haben sie eine religiöse Bedeutung oder werden Teil von Andenken, sind Glücksbringer und dienen als Material für Kunsthandwerk. Bis vor ca. 100 Jahren waren Haarbilder und Haarschmuck als Erinnerungsstücke auch im Emmental üblich.
- Haare sind immer menschliches Gewebe und sollten mit grösstem Respekt behandelt werden.
- Diese Aufzählung ist weder vollständig noch abschliessend. Es kann sein, dass sie während unseres Entsammlungsprozesses noch erweitert wird – zum Beispiel dank Hinweisen und Inputs aus der Bevölkerung oder von anderen Museen.
In der Ausstellung #AltSuchtNeu im Dachstock des Regionalmuseums Chüechlihus können die Besucher:innen über das Thema der sensiblen Objekte nachdenken und ihre Meinung dazu äussern.
(Ein-)Schnitt
Das Museum besitzt keine näheren Angaben, woher die Haare aus seiner Sammlung stammen und in welchem Zusammenhang sie abgeschnitten wurden. Eine Ausnahme bilden die Zöpfe der ehemaligen Leiterin des Alters- und Pflegeheims in Langnau i.E. Ihre Geschichte, die sie uns kürzlich erzählte, wird nun im Museum weiterleben. Als junge Frau hat sie sich 1955 die langen Haare selbst abgeschnitten. Für sie symbolisierte dieser Akt den Übergang vom Kind zur Frau, einen persönlichen Neuanfang. Es war aber auch eine Art Ritual, das Frauen – nicht nur in der Region – vollzogen. Noch bis in die 1960er Jahre, gehörte es sich auch in der Schweiz, dass sich die Mädchen die Haare lang wachsen lassen (weil eine Frau lange Haare trägt) und diese aber in der Öffentlichkeit gebunden als Zopf tragen – insbesondere da, wo, wie in Schule oder Kirche, Disziplin und Gehorsam an oberster Stelle standen. Das Abschneiden der Haare wurde damit zu einem Akt der Befreiung. Mit der Mündigkeit begann die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, das eigene Aussehen und die eigene Identität als Frau. Es gibt aber auch Beispiele aus der heutigen Zeit, wo abgeschnittenes Haar als Befreiungsschlag und politisches Statement gedeutet werden kann. Der wohl aktuell bekannteste Fall sind die Proteste, die der Tod der Iranerin Masha Amini, die in Polizeigewahrsam verstarb, auslöste. Rund um den Globus setzten Iranerinnen ein Zeichen, indem sie sich als Protest gegen das iranische Regime und damit als Protest gegen bestimmte Vorstellungen von Weiblichkeit, öffentlich eigene Haarbüschel abschnitten. Der Grund der Festnahme Aminis war, dass sie im konservativ-muslimischen Iran zu viel Haar zeigte. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass «Haare» kulturhistorisch aufgeladen sind und der Umgang damit ganz unterschiedliche Bedeutungen erfahren kann.
Erfolgreich bewerben: bitte beachten
Die Abstimmung hat ergeben, dass wir die Haare ohne bekannte Herkunft definitiv entsammeln und für Bewerbungen freigeben. Wir wünschen uns hier explizit, dass sich die Bewerber:innen mit diesen unterschiedlichen – auch schwierigen – Dimensionen von Haaren auseinandersetzen und mit ihrer Idee zur Weiterverwendung der «Haare» zum Nachdenken anregen. Interessent:innen, die sich für die Haare bewerben möchten, müssen deshalb eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema garantieren und eine zweckgemässe Verwendung sicherstellen. Die Frage des respektvollen Umgangs mit diesen Objekten steht im Mittelpunkt. Da es sich bei den Echtaaren um ein sensibles Thema handelt, werden hier nur Bewerbungen berücksichtigt, die zum Nachdenken und Diskutieren anregen.
Weiteres sensibles Objekt: Munition
Als wir unsere Sammlung untersuchten, sind wir auch auf Munition gestossen.
- Die Herkunft und das Alter dieser Munition sind unbekannt.
- Scharfe Munition ist gefährlich, deshalb muss sie besonders gelagert werden.
Die Emmentaler:innen wurden deshalb im Abstimmungsprozess gefragt, wie sie mit dieser Munition umgehen wollen und der Objektrat #AltSuchtNeu 2024 diskutierte darüber. Es wurde entschieden, noch mehr Informationen über dieses Objekt zu sammeln, bevor das weitere Vorgehen mit der Munition definitiv festgelegt wird.
Je nachdem, was bei den weiteren Abklärungen herauskommt, wird der eine oder der andere Schritt verfolgt:
- Ein Teil der entschärften Munition könnte zusammen mit den Verpackungen in der Sammlung bleiben. Der Rest wird entsorgt.
- Die Verpackungen sind weiterhin in der Sammlung, die Patronen werden fotografiert und danach entsorgt, oder an eine Fachperson abgegeben.
Jetzt schon steht definitiv fest: Wir nehmen keine Bewerbungen entgegen.